Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte by Sprengel Peter
Autor:Sprengel, Peter [Sprengel, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406682087
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-09-19T16:00:00+00:00
Nicht alle im überwiegend weiblich besetzten Auditorium mochten da klatschen. So hielt ihm eine Hörerin nach dem letzten Vortrag über die Frauenemanzipation vor, dass er den mühsamen Lebenskampf der deutschen Arbeiterinnen ignoriere, die während des Kriegs ihre Kinder allein durchgebracht hatten: «Und Sie unternehmen es, diese Frauen zu verraten vor einem Parterre satter schöngekleideter Millionärinnen und sensationslüsterner Intellektueller?»[67]
«Hier und da erscheinend» – noch während des Berliner Vortragszyklus trat der Redner im Januar und März 1919 auch in Bremen auf; dabei ließ er sich zweimal zu Fragen der Schule und Bildung und einmal vor einem kaufmännischen Verein zur Frage Warum wir nicht völlig verloren sind vernehmen.[68] Für diesen Anlass sollte übrigens möglichst «populär» geworben werden: «ich halte eine heftige, wenn es sein muss, demagogische Volksrede, die […] sich und den Redner ins Spiel wagt.»[69] Der spannendste Auftritt des Redners in der Hansestadt war jedoch der Erinnerung Marels zufolge ein anderer: «Borchardt hielt Rede auf dem Bremer Markt gegenüber den Rotgardisten – alles horchte auf – seine Furchtlosigkeit imponierte – Gegenreden – Ich zog ihn endlich fort.»[70] Man muss dazu wissen, dass die Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte in Bremen erst im Februar durch militärisches Eingreifen beendet wurde. In einem Brief an seinen Verleger Wiegand hat sich Borchardt einmal selbst als gegenrednerischer Marktschreier inszeniert, die Werbeveranstaltung der Bremer Presse immer wieder mit dem Zwischenruf «Das ist kein Programm» unterbrechend.[71] Im Übrigen war seine eigene Rhetorik auf Widerreden nicht eingestellt. Auf den Brief eines Berliner Hörers bezog er sich im nächsten Vortrag als «Infamie», was den Kritiker zum sofortigen Rückzug veranlasste: «Die Hörerschaft wird weiter gläubig, durch Kritik unangefochten, zu Ihren Füssen sitzen. Der Riss zwischen dem Dienstag-Publikum und seinem Redner ist wieder geschlossen.»[72]
Zu einer Reprise der (übrigens wohl großzügig bezahlten) Wolde-Vorlesungen kam es im Frühjahr 1920, als Borchardt am gleichen Ort in einem vierteiligen Zyklus über den Dichter und das Dichterische sprach – die beiden letzten Vorträge wurden 1995 aus dem Nachlass gedruckt[73] – und die Rede über Schiller hielt, deren mitstenographierter Text im November 1920 gegen seinen Willen in Stefan Großmanns Zeitschrift Das Tage-Buch erschien. Es war ein wahlverwandt-autobiographischer Schiller, den Borchardt seinem Hörerkreis vergegenwärtigte: In die Generation radikaler Schwaben wie Schubart und Moser hineingeboren, überwindet er das Revolutionstreiben durch den «Sinn für die Geschichte» und wird auf diesem Wege «ein Kämpfer für das Gewesene in erster Linie und nicht für das Künftige».[74] Borchardt zog hier Linien eines Schiller- und eines Dichterbildes aus, die schon in seinem Mannheimer Vortrag Der Dichter und die Geschichte vom April 1918 angelegt und dort explizit mit einer Polemik gegen die Geschichtsvergessenheit des Expressionismus, Futurismus und Dadaismus verknüpft waren.[75] Die Einleitung in den Geist der Zeit sollte den Schriftsteller Borchardt übrigens noch mehr als zwei Jahrzehnte beschäftigen: zunächst als großangelegtes Buchprojekt (und erhoffte Dollarquelle) im Inflationsjahr 1923, dann als Essayfragment aus gegebenem Anlass 1943/44.[76] Hier wie dort lautet der Titel Der Untergang der deutschen Nation.
Nach seiner Zwischenstation in der Wohnung Woldes übernahm Borchardt von Schröders Schwester Dora, die für den Kiepenheuer Verlag arbeitete, deren Zimmer in
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